Rezension: “Obiad – Mehr als nur Mittagessen” von Andre Biakowski

Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust
von Andreas Züll

Buchcver ObiadObiad – Es ist ein einzelnes polnisches Wort, das am Anfang steht und dem Autor seine Grenzen vor Augen führt, aber auch die Chancen, die sich dahinter verborgen halten. Obiad – Mittagessen. Ein Jahr lebte Andre Biakowksi, Jahrgang 1980, als Freiwilliger beim Maximilian-Kolbe-Werk im polnischen Lodz und brachte Überlebenden des Holocaust tagtäglich ihr Mittagessen vorbei, in jener Stadt, deren Geschichte sich unter dem unheilvollen Namen Litzmannstadt während der deutschen Besatzung untrennbar mit dem gleichnamigen Ghetto und dem Holocaust verband, wie ganz Polen, widerwillig, ungebrochen, zu Unrecht. Ein prägendes Jahr, das er in seinem Buch in Form von Briefen, Reflexionen und Gedichten festgehalten hat. Eindrucksvoll und nahegehend, oft Gedankensplittern gleich, schildert Biakowski seine anfänglichen Schwierigkeiten, seine oft nur kurzen täglichen Begegnungen, sein Einfühlen und Einleben in eine fremde Welt, die doch so nah erscheinen mag, sein Zusammensein mit den „unbekannten Nachbarn“, die ihm – dem jungen Deutschen – nicht mit Vorwürfen und Anschuldigungen für ihr leidvolles Schicksal unter der deutschen Herrschaft begegnen, sondern freundlich, aufgeschlossen, mitmenschlich.

„Wenn ich Zeitzeugen in die Augen schaue, so fällt es mir schwer, ihren Blicken standzuhalten. Ihre Augen glasig, wenn sie sprechen. Da ich zu der letzten Generation gehöre, die mit Überlebenden des Holocaust in Kontakt treten kann, fragen darf und zuhören muss, bin ich beauftragt, mich gegen das Vergessen einzusetzen“, so beschreibt der Autor es selbst. Diese „letzte Generation“ und vor allem jene Generationen, die ihr nachfolgen werden, müssen sich ihr eigenes Bild über Nationalsozialismus und Holocaust machen, Geschichte darf sich nicht allein in Fakten und Daten verlieren, das ist auch Biakowski ein Anliegen. Und genau das tut er, er bildet sich ein Bild und geht dabei über die dunklen, aber inzwischen eben doch abgegriffenen Seiten der Geschichtsbücher hinaus. Er geht zu den Menschen, lebt, lacht, weint mit ihnen – und erzählt ihre Geschichten nicht einfach nach, sondern lässt sie in ihren eigenen Worten lebendig werden. Die Zeitzeugen werden weniger, gelegentlich liest man, sie sterben aus, als handle es sich dabei nicht um Menschen, die die nationalsozialistische Hölle durchstanden haben, sondern um einen fernen, paläonthologischen Forschungsgegenstand. Das ist natürlich töricht, jede Seite dieses Buches ruft einem das ins Gedächtnis. So ist „Obiad“ eigentlich kein Buch über den Holocaust, es ist noch nicht einmal allein ein Buch über Polen. Es ist ein Buch über Begegnungen, über das Zwischenmenschliche, das der Autor durch eine schnörkellose Poesie nachzeichnet, nachempfindbar werden lässt. Ein Buch auch über eine große Liebesgeschichte zwischen dem jungen Reisenden und einem Land, den Menschen, der Sprache, der Kultur, eine „Liebeserklärung an eine Stadt, an ein Land, in dem ich das schwerste und zugleich das beste Jahr meines Lebens verbrachte“. Zu den großen Sequenzen des Buches gehören konsequenterweise jene Passagen, in denen Biakowski selbst aus sich und der Rolle des Freiwilligen hinaustritt, vom gemeinsamen Kaffeetrinken im Sozialzentrum in Lodz, von gegenseitigen Besuchen, von einem Skiausflug, von sich bildenden Freundschaften berichtet. Es gelingt ihm, den eigenen Zauber jedes noch so kleinen Momentes seines Aufenthaltes in Polen einzufangen und ihm einen philosophischen Gehalt zu geben, ohne große Worte darum machen zu müssen, indem er einfach nur erzählt, was ist, was er denkt und fühlt. „Ich trage die Botschaft von vielen Begegnungen und Gesprächen in mir. Diese Menschen dürfen nicht vergessen werden. Sie zu vergessen, bedeutet Geschichte zu relativieren“, schreibt er an einer anderen Stelle. Biakowski gibt diese Botschaft in seinem Buch weiter, eine wichtige Botschaft, die gelesen und verstanden werden sollte.

„Obiad – Mehr als nur Mittagessen“ ist erschienen im Verlag Acabus unter der ISBN 978-3-862822-198-3 und im Buchhandel erhältlich.