Flucht – 3. Samstag gegen das Vergessen – 23.1.2016

von Herbert Kaefer

Vorbemerkungen: Auf welchem Hintergrund spreche ich?

  1. Ich war Flüchtling, sonst stünde ich nicht hier.
  2. Seit 1983 machte ich Flüchtlingsarbeit in Aachen, ich war dort viele Jahre Flüchtlingsbeauftragter. Wir gaben viele Male Kirchenasyl – über Jahre. Wir gründeten Café Zuflucht. Seit über 10 Jahren bin ich ehrenamtlich Mitarbeiter bei Misereor. Was das mit Flucht zu tun hat, wird hoffentlich später deutlich. Bei mir wohnt Tesfay aus Eritrea.
  3. Ich bin Christ. Für mich ist jeder Mensch Bild Gottes, wir sind Geschwister. Nationalitäten sind unwichtig. Die Bibel ist voller Fluchtgeschichten. Sie mahnt, Fremde nicht zu bedrücken, sondern gleich zu behandeln.

Weitere Vorbemerkung: Ich spreche heute nicht über Zahlen.

Flüchtlinge werden heute mit großen Zahlen thematisiert. Damit wird auch Angst gemacht. Es ist wichtig, die konkreten Menschen in ihrer Not, in den konkreten Umständen zu sehen. Jede Flucht ist eine schwere persönliche Entscheidung.

Andererseits sind Fluchtumstände oft ähnlich. Heute berichte ich nicht über einige Einzelschicksale, sondern über allgemeine Umstände, weshalb Flüchtlinge in größerer Zahl kommen.

In diesem Sinn unterscheide ich zunächst 3 große Gruppen im Wissen dass nicht alle dazu gehören:

  1. Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Flucht-ursachen sind hier Bürgerkrieg, Terror und Gewalt.
  2. Flüchtlinge aus den Balkanländern. Von dort kommen überwiegend Roma. Roma werden in den meisten Balkan-ländern stark diskriminiert. Sie wohnen in Elendsvierteln, manchmal durch Mauern abgetrennt, die Kinder können keine Schule besuchen, sie finden nur schwer eine geregelte Arbeit.
  3. Die Situation der beiden ersten Flüchtlingsgruppen ist vielen bekannt. Auch ich kenne sie nur aus den Medien.

Flüchtlinge aus Afrika. Hier habe ich durch meine Arbeit für Misereor und viele Kontakte zu Afrikanern auch persönliche Erfahrungen. Ich möchte daher heute schwerpunktmäßig zu dieser Gruppe sprechen.

Warum flüchten Menschen aus Afrika?

Hauptursache: Europa, China und arabische Länder zerstören in Afrika die Lebensgrundlagen der Menschen:

1. Landgrabbing: Fremde nutzen gutes Land oder Wasser für sich aufkosten der Einheimischen. Beispiele:

  • Gummi: Firestone-Land in Liberia;
  • Rosen aus Kenia brauchen Schmelzwasser des Klimandjaro: 135000 Rosen werden täglich nach Frankfurt geflogen;
  • Baumwolle für mehr Textilien für uns – Soja für unsere Massentierhaltung – Zuckerrohr für E10 – exotisches Obst.

2. Europäische Fangflotten plündern der Fischgründe,

große Konzerne beuten in Afrika die Rohstoffe aus

3. subventionierte europäische Exporte nach Afrika:

Hähnchenteile, Milch (z.B. in Burkina Faso 7 – 10 Cent unter dem örtlichen Preis), Klamotten. EPA setzt die afrikanischen Länder unter Druck, damit sie auf unsere überschüssigen und subventionierten Agrarprodukte keine Zölle erheben.

Wohin flüchten die Afrikaner?

Die allermeisten flüchten in die Städte des eigenen Landes oder der Nachbarländer, müssen in unwürdigen Slums leben. Nur sehr wenige machen sich auf den Weg nach Europa.

Warum sind es vielfach gerade junge Männer?

  • Weil sie Zukunft haben wollen,
  • weil sie die Familie nachholen wollen,
  • weil sie die alten Eltern versorgen wollen.

Warum konkrete Menschen flüchten, frage ich nicht, ob aus Verfolgung, Leidensdruck oder weil er eine Zukunftschance ergreifen will. Ich frage Menschen nicht aus! Jeder Mensch soll seinen Weg gehen können und unterstützt werden, solange er andern nicht schadet!

Wie sieht die Flucht konkret aus?

Flüchtlinge gehen oft lange Wege, erleiden Raub-Überfälle, werden erpresst, arbeiten als Sklaven, erleiden Entbehrungen bis zur Ankunft am Mittelmeer – manche sind 1-2 Jahre unterwegs, dann steigen sie selbst in den Maschinenraum von Seelenverkäufern, um endlich nach Europa zu kommen. Sie können nicht zurück!

Welche Folgen hat die Flucht?

  • für die Einzelnen: Lebensgefahr, oft traumatische Erfahrungen auf dem Fluchtweg, Entwurzelung, moderne Sklaverei.
  • für das Land: brain drain: Erst haben wir Rohstoffe geplündert, jetzt locken wir gute Menschen. Beispiele Ärzte aus Malawi in Deutschland, Computerfachleute aus Marokko: die Heimat-länder zahlen die Ausbildung, wir kaufen die fertigen Leute.

Andererseits: Flüchtlinge überweisen mehr Geld als die Entwicklungshilfe gibt!

Es gibt afrikanische Initiativen, die dringend von der Flucht abraten: Mütter, Kirchen, Musiker: Sie warnen vor einer neuen Form von Sklaverei. Manche riskieren für Illusionen ihr Leben.

Es ist nicht gut, dass Menschen flüchten müssen!

Was können wir tun?

Es gibt nicht eine womöglich schnelle Patentlösung!

Was geht nicht? Was hilft nicht?

  • Zäune vgl. Ungarn oder spanische Enklaven. Die Folge: neue, gefährlichere Fluchtwege z.B. die Fahrt über das Meer.
  • Kampf gegen Schleuser, Frontex, Boote versenken: Das alles macht die Flucht nur gefährlicher und spielt Schleusern in die Hände. Eine verhinderte Flucht ist keine Bekämpfung der Fluchtursachen.
  • andere für die schmutzige Arbeit engagieren: Libyen mit den Abkommen Trans Sahara I und II, jetzt die Türkei: von dort werden manche Flüchtlinge nach Presseberichten mit brutalem Vorgehen nach Syrien zurück geschickt.
  • angeblich sichere Herkunftsländer oder sichere Gebiete deklarieren: das ist eine Fiktion, die der Verschleierung dient, sie ändert nichts an der Situation im Land.
  • schärfere Gesetze bei uns: z.B. Kasernierung, Lebensmittel statt Geld, Wertgegenstände einziehen. Dahinter steckt der Irrtum, dass die Menschen kämen, weil sie es hier so gut hätten. Tatsächlich kommen sie, weil es im Fluchtland so schlecht ist. Hier wirkt der Push-Effekt, nicht der Pull-Effekt! Abschreckung ist erst wirksam, wenn es bei uns so schlecht wäre wie im Fluchtland! Verschärfungen verletzten Menschen in Not, die oft schon traumatisiert sind. – Das gilt auch für die Aussetzung des Familiennachzugs: sie trifft, aber sie belastet Familien, erschwert Leben gerade vereinzelter junger Männer.

Zusammenfassend ein Zitat aus dem Jesuitenflüchtlings-dienst: Wir baden gerade die Folgen einer gescheiterten Abschreckungspolitik aus, und die Politik beharrt auf diesem rückwärtsgewandten Kurs. Schikane ist kein wirksames Instrument der Flüchtlingspolitik. Die Menschen fliehen nicht wegen ein paar Euro. Sie verlassen ihre Heimat, weil sie flüchten müssen.

Was können wir tun – positiv?

Fluchtursachen bekämpfen! Da hat die Kanzlerin Recht. Es müsste tatsächlich geschehen. Da die Ursachen bei den größten Flüchtlingsgruppen verschieden sind, muss auch differenziert daran gearbeitet werden.

Das bedeutet gerade für den Nahen Osten: Waffenexporte stoppen! Kein Verkauf von Panzern und einer Munitionsfabrik an Saudi Arabien, keine Kleinwaffen und Munition weltweit. Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten! Militärische Einsätze etwa von Tornados oder AWACS beseitigen Fluchtursachen nicht. Diplomatie ist gefragt.

Auf dem Balkan: Hinschauen und eine wirksame, partner-schaftliche Entwicklungszusammenarbeit: die Balkankonferenz ist ein richtiges Ansatz, aber er müsste intensiviert werden.

Afrika: eine grundsätzlich andere Wirtschaftspolitik, die den Menschen eine Perspektive im eigenen Land gibt. Zitat Ent-wicklungsminister Müller (CSU): „Unser Wohlstand in Deutsch-land begründet sich zu einem erheblichen Teil auf den wert-vollen Ressourcen und der Ausbeutung dieser Ressourcen in afrikanischen Ländern.“ Die Preise, die wir zahlen, seien schäbig. Es wird keine Entwicklung in Afrika geben ohne dass Europa faire Preise dafür zahle, so Müller. Entwicklungsländer brauchten faire Handelsbeziehungen, nicht freie Märkte. „Freier Markt heißt das Recht des Stärkeren.“ – Hilfsorganisationen wie Misereor unterstützen eine Entwicklung für die Menschen vor Ort.

Außerdem sollte Europa keine Diktatoren stützen, nur weil sie für „Stabilität“ sorgen, und keine korrupten Eliten, weil sie uns wirtschaftlich nützen.

Christa Müller kritisiert in der Frankfurter Rundschau das Wirt-schaftsabkommen EPA der EU mit Afrika: EPA ist Ausdruck allergrößter Rücksichtslosigkeit. Es zwingt sogar mit Strafzöllen afrikanische Länder, ihre Märkte nahezu vollständig für euro-päische Importe zu öffnen. In der EU fließt mehr als ein Drittel in die Subventionierung einer Industrielandwirtschaft, deren Überschüsse anderswo in der Welt lebendige Strukturen zerstören. „Die Welt wird keine Ruhe geben, solange sie als Ware verkauft wird.“

Die Arbeit an der Beseitigung der Fluchtursachen braucht Zeit. Leider hat man viel zu lange nichts oder das Falsche getan. Schon in den neunziger Jahren forderte Minister Schäuble, Fluchtursachen zu bekämpfen, nicht Flüchtlinge. Aber nichts geschah. Lange wurde geleugnet und verdrängt: 30 Organisationen schlugen 2014 Alarm: vergeblich. Der Syrienkonflikt schwelt seit fast 6 Jahren, Syrienflüchtlinge inter-essierten nicht, solange sie im Libanon, in Jordanien und der Türkei blieben. Italien rief um Hilfe: es gab keine Solidarität. Papst Franziskus war in Lampedusa im Sommer 2013. Italien startete Mare nostrum, aber Europa stoppte, weil es 9 Millionen im Monat kostete. Griechenland rief um Hilfe, Deutschland interessierte nur die Bankenkrise.

Was ist menschlich und sinnvoll, bis langfristige Arbeit an den Fluchtursachen greift?

  • Das, was vielerorts auch hier in der Eifel vorbildlich geschieht:
  • Willkommenskultur mit der inneren Einstellung der Mensch-lichkeit, nicht der Angst. Verständnis für schwierige Situation.
  • Beratung und partnerschaftlicher Umgang
  • Begegnung und gemeinsam etwas zu tun („Integration“): Sport, Theater, Musik, Garten, Werkstätten usw.
  • Schule und Ausbildung, Ausbildung, Ausbildung, egal wo die Flüchtlinge nachher bleiben!
  • Rechtsradikaler Hetze konsequent entgegentreten.

Es kann Enttäuschungen geben! Köln.

Es gibt Banden, nordafrikanische, deutsche Rockerbanden, Roma-Banden, deutsche NSU: gegen Banden muss die Polizei vorgehen – egal welcher Nationalität sie sind!

Es gibt Einzelne, die straffällig werden: Nicht alle Flüchtlinge sind Heilige, nicht alle sind Kriminelle. Das ist wie bei uns Deutschen: Nicht alle sind Heilige, nicht alle Kriminelle. Das hängt nicht am Herkunftsland!

Es ist erstaunlich: 450 Haftbefehle gegen Rechtsradikale wurden nicht vollstreckt, die Gewalttaten gegen Flüchtlings-unterkünfte steigen, aber das ist selten Thema. Sexuelle Übergriffe durch Deutsche ebensowenig. Gewalt – ob sexuelle Gewalt oder Gewalt mit Feuer soll unabhängig von der Herkunft der Person verhindert oder verfolgt werden. Dazu ist eine Polizei mit angemessener personeller Ausstattung da.

Bewusst zum Schluss, weil das nicht das Ziel sein soll:

Flüchtlinge können unser Leben positiv verändern.

Sie sind eine Chance für uns:

  • Flüchtlinge zahlen in unsere Rentenkasse, aber sie sollen keine modernen Sklaven zur Lösung unserer Probleme sein.
  • Flüchtlinge können wertvolle Impulse in ihr Ursprungsland geben – auch was Menschenrechte angeht, wenn sie Menschenrechte hier praktisch erleben.
  • Flüchtlinge von heute können spätere Wirtschaftspartner sein.

Es wundert nicht, dass die Wirtschaft das Kommen von Flüchtlingen unterstützt.

  • Flüchtlinge sind eine kulturelle und menschliche Bereicherung für unser Land, sie sind es für mich persönlich: Ich habe Freunde gewonnen und viel gelernt, ich bekam einen weiteren Horizont. Ich bin dankbar für viele Begegnungen!